Wie sich Epilepsie auf das Verhalten deines Hundes auswirken kann
Epilepsie wird landläufig mit Krämpfen in Zusammenhang gebracht, dabei beinhaltet die Krankheit sehr viele Begleiterscheinungen, die zum einen kaum bekannt sind und zum anderen die Lebensqualität der betroffenen Hunde sowie das ihrer Bezugspersonen erheblich beeinträchtigen können. In der Fachsprache werden diese zu einer Grundkrankheit hinzukommenden Begleiterkrankungen oder Störungen als Komorbität bezeichnet. So beobachte ich in unserem Alltag den Käpt´n zum Beispiel viel genauer und befürchte schon bei kleinen Wesenveränderungen einen Anfall. Im Folgenden werde ich insbesondere auf die möglichen Komorbitäten auf der Verhaltensebene eingehen.
Wesen und Funktion von Verhalten
Verhalten sind alle Aktivitäten oder Reaktionen, die dein Hund an der Körperoberfläche zeigt. Es ist an konkreten Parametern messbar. Wenn dich interessiert, wie du Verhalten messen kannst, dann schreib mir gerne einen Kommentar. Ich gehe dann sehr gerne in einem anderen Beitrag noch einmal darauf ein. Verhalten hat grundsätzlich die Funktion an Verstärkung zu kommen. Was genau eine Verstärkung ist, entscheidet der Hund (Blaschke-Berthold 2001).
Der Wissenschaftler Niko Tinbergen hat vier Ursachen von Verhalten erarbeitet:
- die auslösenden Faktoren und Bedingungen
- der aktuelle Anpassungswert
- die Individualentwicklung
- die Stammesgeschichte
Bei den auslösenden Faktoren wird betrachtet, was kurz vor dem Verhalten passiert und welche Faktoren das Verhalten möglicherweise potenzieren (Blaschke-Berthold 2001). Potenzierende Faktoren können ein sich aufbauendes Gewitter, extreme Hitze, zu wenig Schlaf, der Besuch am vergangenen Wochenende oder auch eine Krankheit sein. Wenn dein Hund also z. B. normalerweise auf Jogger:innen nie reagiert hat, kann jedoch eine Krankheit und das damit verbundene Unwohlsein dazu führen, dass er nun auf die sich zügig annähernden Sportler:innen durchaus reagiert. Hier kommt nun die Epilepsie ins Spiel, die nachweislich sehr häufig einen immensen Einfluss auf das Verhalten eines Hundes aber auch seiner Besitzer:innen hat. So beobachte ich in unserem Alltag den Käpt´n zum Beispiel viel genauer und befürchte schon bei kleinen Wesensveränderungen einen Anfall. Die Wissenschaft konnte noch nicht abschließend feststellen, ob die Verhaltensveränderungen bei an Epilepsie erkrankten Hunden auf die Epilepsie an und für sich zurückzuführen sind oder ob es sich um Nebenwirkungen der Medikamentation handelt (Levitin et al. 2019). Doch welche Konmorbitäten sind auf der Verhaltensebene bei an Epilepsie erkrankten Hund gut nachgewiesen?
Wesensveränderungen, die mit Epilepsie einhergehen
Es wurden eine Reihe an Wesensveränderungen bzw. Störungen bei an Epilepsie erkrankten Hunden identifiziert, die untenstehend aufgelistet werden. Packer et al. (2016, 2019: 63) bezeichnen die festgestellten Wesensveränderungen als ADHS-ähnlich und betonen, dass diese oft schon Jahre vor dem ersten sowie noch Jahre nach dem letzten Anfall auftreten können. Das spricht für eine Komorbität der Krankheit Epilepsie und nicht dafür, dass es sich um Nebenwirkungen der Medikamente handelt. Zugleich verweisen sie auf weitere notwendige Studien in diesem Bereich. Beobachtete Wesensveränderungen sind (Levitin et al. 2019: 4f; Packer et al. 2016, Packer et al. 2019: 63, Shihab et al. 2011, zit. in Levitin 2019: 2):
- Zwangsstörungen bzw. abnormales repetitives1 Verhalten,
- Impulsivität,
- vermehrte Ängstlichkeit bei der Annäherung eines fremden Hundes,
- geringere Erregung und Freude vor dem Gassigehen oder einen Ausflug mit dem Auto
- vermehrte Angst und Furcht bei der Körperpflege durch eine Bezugsperson,
- vermehrter Trennungsstress2,
- stärkere Aufregung, wenn die Bezugsperson mit einem anderen Hund oder einer anderen Person interagiert,
- vermehrte defensive Aggression,
- abnormale Wahrnehmung,
- stärkere Zuneigung bzw. Anhänglichkeit zu einer konkreten Person im Haushalt,
- Tendenz zur Einforderung der Aufmerksamkeit, wenn sich die Bezugsperson oder andere Personen hinsetzen3,
- Unaufmerksamkeit bzw. schnelle Ablenkbarkeit durch interessante Erscheinungen, Geräusche oder Gerüche
- Abnahme der Trainierbarkeit und
- verringerte Lernfähigkeit.
Dabei betonen Levitin et al. (2019: 5) einen signifikanten Unterschied zwischen Patienten, die eine Polytherapie4 erhielten, und Hunden mit einer Monotherapie5. Patienten mit einer Polytherapie zeigten die Verhaltensveränderungen signifikant deutlicher als Hunde mit einer Monotherapie. Die Gruppe um Levitin nimmt vor diesem Hintergrund an, dass eine gute Anfallskontrolle möglicherweise auch die Verhaltenskonmorbitäten positiv beeinflusst6.
Vermehrte Ängstlichkeit
Die vermehrte Ängstlichkeit bei Hunden mit idiopathicher Epilepsie konnte keiner spezifischen Anfallsphase zugeordnet werden. Sie kann nach den Autor:innen sowohl eine Nebenwirkung der Medikamente als auch ein Seiteneffekt der Krankheit an und für sich sein. Hierbei vermuten die Autor:innen ebenso eine erhöhte Ängstlichkeit bei tierärztlichen Untersuchungen. Insbesondere Hunde mit einer hohen Anfallsfrequenz zeigten stärkere Tendenzen zur Ängstlichkeit, Depressivität, Trennungsstress sowie Erregung bei sozialer Interaktion der Bezugsperson mit anderen Menschen oder Hunden als Artgenossen mit geringerer Anfallsfrequenz.
Trennungsstress, Anhänglichkeit und Aufmerksamkeit suchendes Verhalten
Anders als bei der Ängstlichkeit konnten die Autor:innen sowohl einen stärkeren Trennungsstress als auch eine vermehrte Anhänglichkeit konkreten Anfangsstadien zuordnen.
Zwangsstörungen bzw. abnormales repetitives Verhalten
Gansloßer und Strodtbeck (2015: 33-34) gehen in einem bemerkenswerten Artikel über britische Hütehunde auch auf abnormales repetitives Verhalten ein und ordnen insbesondere das sehr häufig wiederholte und langanhaltende Jagen von Schatten, Lichtkringeln oder imaginären Fliegen als milde Vorform der Epilepsie ein. Sie betonen, dass gerade Border Collies zur Entstehung von Zwangshandlungen in Form von Schattenjagen und langem Anstarren von unbewegten Gegenständen neigen. Zu diesen Stereotypien kann auch das immer wieder und unermüdliche Jagen eines Balles oder einer Frisbee, das ebenfalls mit einer hohen Persistenz7 gezeigt wird, gehören. Zugleich ist der Border Collie eine stark vertretende Hunderasse unter den an Epilepsie leidenden Kaniden. Ihre Prognose ist dabei häufig ungünstig, da sie oft sehr schwerwiegende Anfälle entwickeln, zu Clusterbildungen und/oder Status neigen und auf Grund dessen sogar eingeschläfert werden müssen.
Fazit
Auch wenn mir leider nicht alle Studien, die ich zur Vorbereitung des Artikels gerne hinzugezogen hätte, zugänglich waren, ergab sich für mich doch ein deutlicher Zusammenhang zwischen einer Erkrankung an Epilepsie und signifikanten Verhaltensveränderungen. Das Bearbeiten des Themas Verhalten im Zusammenhang mit Epilepsie war für mich hochinteressant und zugleich mit Erleichterung verbunden. So habe ich die oben aufgeführten Parameter im Verhalten meines Hundes schon sehr lange vor dem ersten Anfall beobachten können. Zugleich nahm die Trainierbarkeit des Käpt´ns ab, ich kam nicht weiter. Obwohl ich durch die Schulhundausbildung schon gut in der Trainingslehre und der Lerntheorie bewandert war, machten der Käpt´n und ich wenig Fortschritte in der Verhaltenstherapie. Vielmehr nahmen die Baustellen stetig zu. Zurück führte ich das zunächst auf Trainingsfehler meinerseits und stieg deswegen letztendlich in die Hundetrainerausbildung bei der ATN ein. Erst jetzt mit der Diagnose Epilepsie und meinem Wissenszuwachs über die Krankheit erklärt sich die Verwandlung des Käpt´ns in einen völlig anderen Hund. Kurz und gut, viele der oben aufgeführten Merkmale zeigt auch der Käpt´n. Im Grunde zeigt er alle, bis auf den Trennungsstress. An schlechten Tagen, z. B. neulich als er eine Bindehautentzündung hatte, bemerke ich jedoch Dank der Videoaufnahmen meiner Kameras ebenfalls Symptome von Trennungsstress.
Verhaltenskomorbitäten und verminderte Trainierbarkeit
Eine besondere Krux ist die diametrale8 Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten und der Trainierbarkeit. Während die Verhaltensprobleme krankheitsbedingt zunehmen und der Hund sich immer häufiger nicht mehr gesellschaftskonform verhält, nimmt die Trainierbarkeit ab. Der Trainingsbedarf an wirklich relevanten Themen für das Mensch-Hund-Team steigt und parallel dazu nimmt die Lernfähigkeit des Hundes ab!
Als Besitzer:in gerät man zunehmend unter Druck: Die Nachbar:innen kommentieren und bekommen Angst vor dem früher so netten Hund, der mal mit in die Schule ging. Passant:innen schauen entsetzt, wenn der Hund im Geschirr hängt und einen Mann in reflektierender Warnweste verbellt, weil Warnwesten gefühlt von einem Tag auf den anderen plötzlich ein Problem sind. Besitzer:innen von Tutnixen lassen ihre Hunde weiterhin heran, trotz intensiven Bittens, den Tutnix zurückzurufen.
Zu allem Unglück zeigen sich die Verhaltenssymptome, wie oben von Rowina Packer dargestellt, schon vor dem ersten sichtbaren Ausbruch der Erkrankung. Wobei auch hier nicht klar ist, ob viele Besitzer:innen die ersten Anfälle möglicherweise nicht bemerken. Ich vermute z. B. mindestens zwei leichte epileptische Anfälle vor dem ersten generalisierten Anfall des Käpt´ns. Das kann unter Umständen dazu führen, dass so mancher Hund hart rangenommen wird, damit er sich endlich mal benimmt und weiß wo seine Grenzen sind! Diese aversiven Trainingsmethoden erhöhen wiederum den Stress des Hundes und machen ihn anfälliger für Anfälle. Für mich hat unsere Geschichte noch einmal gezeigt, dass es keine Alternative zum positiven Training gibt, denn: Wer weiß, was hinter der Verhaltensveränderung deines Hundes steckt? Epilepsie hat also oft schon lange vor der Diagnose einen unmittelbaren Einfluss auf die Lebensqualität.
Epilepsie und Lebensqualität
Subjektiv gesehen hat die Epilepsie unsere Lebensqualität erheblich gemindert. Dies belegen auch immer wieder Befragungen von betroffenen Bezugspersonen (Behrendt 2007, zit. in: Levitin et al. 2019: 6). Ich rechne ständig mit einem Anfall und vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, den Käpt´n alleine zu lassen. Nicht auszudenken, wenn er einen Anfall alleine haben muss, womöglich in einen Status epilepticus fällt und keine Hilfe bekommt! Auch gibt es für uns keine entspannten Spaziergänge in belebten Gegenden mehr. Insgesamt braucht der Käpt´n bei der Bewältigung des Alltages sehr viel Unterstützung.
Der eine oder andere Stressor lässt sich über Managementmaßnahmen aus der Welt schaffen. Ich denke da zum Beispiel an kleine Taschen gegen das Klappern und Klimpern der Hundemarken, an die Toe Grips von Dr. Buzby gegen das von den Nebenwirkungen der Medikamente verursachte Ausrutschen auf glatten Böden oder an eine Brille für besonders lichtempfindliche Vierbeiner.
Manchmal frage ich mich, wie der Käpt´n wohl seine Lebensqualität auf einer Skala von 1-10 einordnen würde? Denn er ist diesen Anfällen ausgeliefert, muss sie durchmachen und leidet in der anfallsfreien Zeit unter großer Ängstlichkeit, Unsicherheit, Impulsivität und geringer Frustrationstoleranz. Ich stehe lediglich am anderen Ende der Leine und versuche, ihn so gut wie es geht zu helfen. Hatte er früher Freude am Training und am Tricksen, kann ich ihn heute oft schwer motivieren.
Viel verändert hat für uns die Medikamentation mit Pexion, einem recht neuen Medikament für Hunde. Die Ängstlich hat etwas abgenommen und er ist wieder deutlich froher und lebensmutiger geworden. Zugleich sind die Anfälle leichter und die postiktalen Phasen kürzer geworden. Der Käpt´n ist nach den Anfällen nicht mehr kurzfristig blind und auch die Aggressivität nach den Anfällen ist seit der Therapie nicht mehr aufgetreten. Parallel dazu konnte ich kaum Nebenwirkungen bemerken und das Medikament hat auf der Verhaltensebene quasi sofort gewirkt. Dennoch vermute ich, dass der Käpt´n trotzdem noch öfter Anfälle fokaler Natur hat. Oft verhält er sich merkwürdig, speichelt extrem und ist sehr anhänglich. Oder heute in der Früh z. B. lief er mehrwürdig wackelig, war sehr ängstlich und für den Rest des Tages gar nicht gut drauf, hat alles und jeden fixiert und wurde schnell frustriert und wütend. War das in der Früh nun ein fokaler Anfall oder nicht?
Hier fehlen mir als Halterin Videos mit einer entsprechenden fachlichen Kommentierung durch einen Veterinärmediziner, damit ich mein Auge besser schulen und in der Folge meinem Hund besser helfen kann. Für die Humanmedizin habe ich einen sehr interessanten Vortrag von Frau von Babo auf YouTube finden können, den ich natürlich verlinke. Sie stellt viele Videobeispiele mit sehr unterschiedlichen epileptischen Anfällen bei Menschen vor, die man als solche aber gar nicht erkennen würde. Das würde ich mir auch für Hunde und natürlich auch alle anderen Tierarten wünschen.
Vor dem Hintergrund, dass insbesondere unter den Border Collies viele Hunde an Epilepsie leiden und parallel die Rasse eine starke Neigung zu abnormal repetitiven Verhalten zeigen, wären Studien über einen möglichen Zusammenhang wünschenswert.
Haltet die Ohren steif und lass euch nicht unterkriegen – trotz Epilepsie!
Eure Anja
Quellen:
Babo, Dr. Michelle von (2021): Epilepsie – viel mehr als wenn’s zuckt und schäumt! In: Google Ireland Limited (2022): YouTube-Kanal der KSA-Gruppe. Dublin. Letzter Zugriff 28.07.2022
Behrendt et al. (2007): Premature death, risk factors, and life patterns in dogs with epilepsy. In: Journal of Veterinary Internal Medicine (2007), Volume 21, S. 754-759
Blaschke-Berthold, Dr. Ute (2001). Methoden der Verhaltenstherapie. In: ATM Akademie für Naturheilkunde. Lektionsvideo Methoden der Verhaltenstherapie in der Ausbildung zur Hundetrainer:in. Dürnten: e-tutor.
Gansloßer, Udo und Strodtbeck, Sophie (2015). Rassentypische Verhaltens- und Hormonprobleme bei Hunden. Feinfühlige britische Hütehunde. Teil 2/6. In: Schweizer Hundemagazin (2015) 9, S. 30-35. Letzter Zugriff 28.07.2022
Levitin, Hilary (2019): Behavioral Changes in Dogs with Idiopathic Epilepsy Compared to other Medical Populations. In: Frontiers in Veterinary Science (2019), Volume 6, Article 396, S. 1-5
May, Dr. Janey und Montasser, Dr. Karim (2022): Interview mit Dr. Karim Montasser. In: May, Dr. Janey (2022): Dog & Talk – Auf eine Gassirunde mit Dr. Janey May. Podcastfolge 50. Gstaad: ohne Verlag
Packer, Rowena et al. (2016): Effects of a ketogenic diet on ADHD-like behavior in dogs with idiopathic epilepsy. In: Epilepsy Behavior (2016), Volume 55, S. 62-68
Packer, Rowena et al. (2019): Behavioral Interventions as an Adjunctive Treatment for Canine Epilepsy: A Missing Part of the Epilepsy Toolkit? In: frontiers in Veterinary Science (2019), Volume 6, Article 3, S. 1-9.
Shihab et al. (2011): Behavioral changes in dogs associated with the development of idiopathic epilepsy. In: Epilepsy Behavior (2011) Volume 21, S. 160-167
- repetitiv = wiederholend ↩
- Levitin et al. (2019: 5) nennen hier explizit Appetitlosigkeit vor oder während der Abwesenheiten von Bezugspersonen. ↩
- Explizit aufgeführt werden: Anstupsen, Pföteln und Aufforderungen zum Kuscheln (Levitin 2019: 5) ↩
- Polytherapie bedeutet, dass die Hunde mit mehreren Epilepsiemedikamenten behandelt wurden. ↩
- Hunde mit einer Monotherapie erhalten ein Epilepsiemedikament. ↩
- Aus Sicht einer betroffenden Bezugsperson ist hier natürlich eine weitere Forschung auch im Hinblick auf eine moderne medikamentöse Therapie wünschenswert. So erwähnte Dr. Karim Montasser in seinem Interview mit Janey May, dass in der Tiermedizin die modernen in der Humanmedizin verfügbaren Medikamente der Tiermedizin nicht zur Verfügung stünden. Vielmehr müsse noch auf Medikamente aus den 80ern zurückgegriffen werden (Montasser 2022, in May 2022: Podcastfolge 50) ↩
- Persistenz = Dauer, über einen langen Zeitraum bestehend ↩
- diametral = entgegengesetzt ↩